
TEXT - TON
Vom Urlaubs- in den Albtraum
Ich war bester Laune. Es war Sommer und die Sonne gab alles. Die Prüfungen des sechsten Semesters waren mehr oder weniger erfolgreich überstanden und vor mir lag ein vierwöchiger Ungarn-Urlaub mit meiner Cousine Katja. Ich befand mich auf dem Weg in die Stadtverwaltung Halle, um das Reisevisum abzuholen und das Leben war schön. Den Gedanken, dass ich das Visum vielleicht etwas kurzfristig beantragt hatte, verdrängte ich. Außerdem war so ein Behördengang in der damaligen DDR nie eine angenehme Sache, denn häufig wurde man unhöflich und herablassend behandelt. Aber es war ja nur eine kurze Erledigung, dann würde ich mein Visum für Ungarn in der Hand halten. Im Geiste ging ich die vor mir liegenden Abläufe noch einmal durch: Heute Abend meine Kraxe[1] packen und am nächsten Morgen von Dresden aus in den Zug nach Prag steigen, wo ich mich mit Katja treffen würde. Ein paar Tage wollten wir in Prag verbringen, dann nach Budapest weiterreisen. Dort würden wir schauen, wohin es uns triebe. Wir wollten nach Ungarn, denn das war eines der wenigen Reiseländer, in die DDR-Bürger reisen durften[2]. Ich fand es ganz schön nett von meiner Cousine, dass sie mit mir in ein so „gewöhnliches“ Land reisen wollte. Denn Katja wohnte in Düsseldorf in Westdeutschland. Ihre Welt war unendlich viel größer als meine und Grenzen gab es für sie höchstens durch finanzielle Limits und persönlichen Mut.
Ich holte einmal tief Luft, und betrat etwas beklommen das zentral in der Geiststraße gelegene Amt. Das richtige Büro fand ich schnell. Dann passierte das Unfassbare: Es lag kein Visum für mich bereit!
Der Mann hinterm Schreibtisch sagte: „Hier liegt kein Visum für Sie vor“. Das Visum für meine Ungarnreise war einfach nicht da! Mein Gegenüber begründete nichts und ich wagte nicht, nachzufragen. Ich erfuhr nicht, ob man gar nicht beabsichtigte, mir ein Visum auszustellen und mich nur hinhielt oder ob auf irgendeinem Schreibtisch meine Reiseerlaubnis fix und fertig lag und eben nur nicht auf diesem Schreibtisch, vor dem ich jetzt saß. Kurz überlegte ich, ob ich meine Situation und den damit verbundenen Zeitdruck irgendwie erklären könnte, um wenigstens irgendeine Reaktion bei dem gleichgültigen Mann zu erzeugen. Aber mein Plan, meine Westcousine zu treffen war definitiv nicht für die Behördenohren geeignet. Ich schwieg. „Fragen Sie in acht Tagen noch einmal nach“, wurde mir abschließend empfohlen.
Wie erstarrt verließ ich das Gebäude. Das konnte doch nicht sein! Ich hatte das Visum vier Wochen vor Fahrtantritt beantragt. Obwohl offiziell empfohlen wurde, ein Visum vier bis sechs Wochen vor Reiseantritt zu beantragen, hatten im Vorjahr vier Wochen gereicht. Auch viele meiner studentischen Freunde waren mit der vier-Wochen-Frist in den Urlaub nach Ungarn gefahren. Mein Kopf war völlig leer – bis auf einen Gedanken: Was sollte ich Katja am Bahnhof in Prag sagen?
Was war zu tun? Ich konnte meine Cousine nicht einmal vorwarnen und mit ihr gemeinsam einen Plan B entwerfen. Obwohl meine Eltern zu den wenigen Haushalten in der DDR gehörten, die ein Telefon besaßen, war es damals nicht möglich, einfach von der DDR in die BRD zu telefonieren. Ein Telefonat musste mehrere Tage im Voraus angemeldet werden und dann bekam man Datum und Zeit zugewiesen. Das erleichterte es den „Sicherheitsorganen“, also der sogenannten Stasi, Telefonate abzuhören. Die Telefonierenden gingen grundsätzlich davon aus, dass sie abgehört wurden. Ich konnte so kurzfristig also nicht auf ein Telefonat zurückgreifen und war mit der Situation ganz auf mich allein gestellt. Alle Leichtigkeit, alle Urlaubsträume schienen wie Seifenblasen zerplatzt zu sein.
Zu Hause in Dresden packte ich am Abend trotz allem meinen Rucksack. Meinen Eltern verriet ich nicht, dass ich kein Visum für Ungarn erhalten hatte. Ein Teil in mir hielt noch an meinem Urlaubstraum Ungarn fest. Ein Gespräch mit meinen Eltern hätte verdammt viel Realität enthalten und vielleicht zum völligen Abblasen der Reise geführt. Davon wollte ich nichts hören. Das Treffen mit Katja in Prag war seit Wochen fest ausgemacht, wir hatten alles in Briefen, die zwischen Düsseldorf und Dresden hin und hergingen, geplant. Also startete ich am nächsten Morgen mit dem Zug der DR[3] nach Prag. Wir würden uns am Hauptbahnhof treffen und noch ein paar Tage in dieser lebendigen Stadt bleiben, bevor wir uns zu unserem eigentlichen Ziel Ungarn aufmachen wollten. Dass ich kein Visum und damit keine Reiseerlaubnis für Ungarn besaß, war in unserer Planung ganz sicher nicht vorgesehen.
Meine Cousine und ich trafen uns also auf dem Prager Bahnhof und freuten uns über unser Wiedersehen.
Katja war zweieinhalb Jahre jünger als ich. Obwohl wir unter sehr unterschiedlichen Bedingungen groß geworden waren, hatten wir uns während der regelmäßigen Besuche ihrer Familie über den Verwandtschaftsstatus hinaus angefreundet. Meine Cousine ist die Tochter eines Bruders meines Vaters, der ca 1960 – also vor dem Mauerbau für einen Studienplatz die DDR verlassen hatte. Katja hatte einen antiautoritären Kindergarten besucht und auch sonst hatten ihre Eltern und Lehrer sie in der Überzeugung bestärkt, dass die Welt ihr offen stünde. Sie war unbeschwert und neugierig und mit ihren damals 20 Jahren entschlossen, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Ihre Welt schien grenzenlos.
Ich dagegen war ein Ostkind, von Grenzen umgeben. Damit meine ich nicht nur die Mauer, die Ost-und Westdeutschland voneinander trennte. Auch Ansichten und Denkweisen waren nicht frei. Ein wichtiges Erziehungsziel für ostdeutsche Eltern war es deshalb, ihre Kinder zu angepassten DDR-Bürgern zu machen. Es konnte sehr gefährlich sein, im sozialistischen System einen eigenen Kopf zu haben und ihn auch noch zu vertreten. Das war weder in der Schule noch zu Hause gefragt. Wir waren also zwei junge Frauen aus zwei politischen Systemen, wie sie unterschiedlicher kaum hätten sein können. Und gleichzeitig waren wir fasziniert voneinander.
Nach den ersten bewegenden Minuten unseres Wiedersehens auf dem Prager Hauptbahnhof erklärte ich Katja das Problem und schlug ihr vor, einfach Urlaub in der CSSR zu machen. Diese Idee war mir während meiner 4-stündigen Zugfahrt von Dresden nach Prag gekommen. Für die CSSR (heute Tschechien und Slowakei) war kein Visum erforderlich. Ich kannte die damalige Tschechoslowakei durch frühere Reisen ein bisschen und war bereit, diese Änderung des Reiseplans in Kauf zu nehmen. Als „gelernte DDR-Bürgerin“ hatte ich früh verinnerlicht, dass Pläne und Träume sich bisweilen nicht umsetzen ließen und man sich oftmals auf eine „zweite – oder dritte - Wahl“ umorientieren musste. Katja zerschlug jedoch diese Idee sofort. Als Studentin könne sie sich das finanziell nicht leisten. Für BRD-Bürger gab es in der CSSR einen Mindestumtausch[4]. 28 Tage 25 DM pro Tag – das war ein sehr hoher Preis und für sie nicht finanzierbar. Das sah ich ein. Jedenfalls versuchte ich das. Irgendwo in meinem Hinterkopf regte sich der Gedanke, dass vielleicht Katjas Eltern uns mit Geld unter die Arme greifen würden. Aber ich wagte nicht, ihn zu äußern und schämte mich, ihn auch nur zu denken. Ich wies mich selbst zurecht - Katjas Eltern konnten nicht dafür „bluten“, dass ihre West-Tochter mit der Ost-Cousine reisen wollte. Zwar war ich in diese Situation nur dadurch geraten, dass ich DDR-Bürgerin war und trug keine „Schuld“, aber dessen war ich mir nicht bewusst. Im Gegenteil, der dumpfe Klumpen in meinem Magen wurde während unseres Gespräches immer dichter, da ich mich wie ein Klotz am Bein fühlte.
Da kam mir noch eine weitere Idee: Ich könnte nach einer Woche „schnell“ von Prag zurück nach Halle fahren. Schließlich war mir genau das in der Behörde angeraten worden: nach einer Woche erneut nach dem Visum zu fragen. Ein DDR-Bürger fand das nicht ungewöhnlich: ohne sichere Aussicht auf Erfolg eine zweimal über 6-stündige Reise auf sich zu nehmen um möglicherweise ein Visum abzuholen. Doch Katja lehnte auch diesen Vorschlag ab. Es war ja nicht klar, ob ich das Visum auf diesem Wege sicher bekäme. Für diese vage Chance schienen ihr die 175 DM, die sie sieben Tage durch den Mindestumtausch kosten würden, eine Menge Geld zu sein. 175 DM waren für eine Studentin in der Tat eine beträchtliche Summe. In mir flüsterte eine Stimme, dass diese Summe doch bezahlt werden könnte, um unseren Urlaub zu retten, aber die Stimme war ganz leise und mein schlechtes Gewissen sprach viel lauter in meinem Inneren, da ich mich schuldig fühlte: „Wahrscheinlich wäre das nicht passiert, hätte ich das Visum früher beantragt.“ Ich dachte auch: „Katja ist bestimmt total genervt von diesen ganzen Umständen. Und wahrscheinlich bereut sie es, mit ihrer Ostcousine den Urlaub geplant zu haben“. Diese und andere Stimmen flüsterten in meinem Kopf. Ich fühlte mich grässlich. Der Reiseabbruch schien unausweichlich. Dann hatte Katja eine echt westdeutsche Idee: „Dann versuchen wir es einfach, fahren zur Grenze und sehen, was dann passiert. Wir wollen ja nichts Böses und verbergen nichts. Mehr als uns zurückschicken, können sie ja nicht.“ Dies schlug meine Cousine vor - furchtlos wie sie war.
In meinem Inneren wusste ich, so würde es nicht gehen. Meine Beklommenheit wuchs. Ich würde nicht nur nicht nach Ungarn kommen, sondern auch an der Kontrollstelle in Sturovo nicht einfach zurückgeschickt werden. Aber die irrwitzige Hoffnung, diese für mich peinliche Situation zu beenden und meine Sehnsucht danach, meinen Urlaubstraum noch nicht zu begraben, beschworen mich: „Das klingt gut und einleuchtend. Könnte klappen.“ Dann wäre ich nicht mehr der Klotz am Bein, dann wäre das Problem, das ich verursacht hatte, gelöst. Mir schien, dass mir kaum etwas anderes übrigblieb, als meinen guten Willen unter Beweis zu stellen.
Aber die Stimme der Vernunft ließ sich nicht so einfach zum Schweigen bringen. Ich war dafür, zuerst einmal zur Ungarischen Botschaft zu gehen und nachzufragen, ob ich tatsächlich ohne Visum ins Land könnte. Möglicherweise hoffte ich sogar, dass die Ungarn meiner Cousine reinen Wein einschenken würden, da mir dazu der Mut fehlte. Gesagt, getan. Wir fuhren zur Ungarischen Botschaft und stellten unsere Frage. Die Ungarn reagierten gleichmütig: “Es ist uns egal, ob Sie einen ostdeutschen oder einen westdeutschen Pass besitzen. Sie können gerne einreisen.“ Katja triumphierte über diese Auskunft. Ich nicht, denn nach einer kurzen freudigen Sekunde wurde der DDR-Bürgerin in mir klar, dass diese Auskunft für mich nicht maßgeblich war. Das Problem war schließlich, aus der DDR (- und genauso aus dem „sozialistischen Bruderland“ CSSR) heraus zu kommen und nicht, in ein anderes Land hinein zu kommen! Ich beschloss, in der DDR-Botschaft nachzufragen. Dort angekommen war es nicht möglich, mit einem Menschen persönlich zu sprechen, sondern die Besucher telefonierten über eine Art Haustelefon mit einem Mitarbeiter der Botschaft. Eine unpersönliche, gesichtslose Stimme teilte mir in diesem Telefongespräch mit, dass ich natürlich nicht ohne Visum nach Ungarn reisen könne. Ich versuchte unsere Situation zu erklären. Ich fragte sogar, ob nicht die Botschaft mir einfach ein Visum ausstellen könne. „Das geht nicht, wir haben gar keine Formulare dafür.“, war die abwehrende Antwort.
Ich steckte in einem Dilemma.
In der DDR und der Tschechoslowakei war für meine Cousine ein längerer Urlaub zu teuer. Mir jedoch war der Weg nach Ungarn verwehrt. Von meinen Schuldgefühlen geleitet, erlag ich dem Druck, den ich mir selbst machte und meiner Cousine zuschrieb. Ich malte mir aus: „Vielleicht wird es tatsächlich so ablaufen. Wir werden einfach zurückgeschickt.“ Dass ich durchgelassen würde, schien mir zu diesem Zeitpunkt nicht mehr wichtig und völlig unmöglich. Ich glaube, die Situation war für mich zu einer Art Treueprobe geworden. Ich wollte beweisen, dass ich alles wagte für unseren Urlaub.
Also starteten wir - wie ursprünglich geplant- in Prag. Von Prag Holesovice aus gab es einen durchgehenden Zug nach Budapest. Während der Reise tat ich alles, um normal und entspannt zu wirken. Ohnehin hatte das Abenteuer nun begonnen und ich konnte nicht mehr zurück. An der Grenzstation Sturovo kam die Grenzkontrolle: “Die Ausweise und Reisepässe bitte.“ Bei meiner Cousine ging die Kontrolle schnell. Bei der Durchsicht meines Ausweises stockte der Grenzbeamte. Ein weiterer Kollege wurde hinzugerufen. Nachdem sich beide kurz beraten hatten, forderten sie mich auf aus dem Zug zu steigen. Zwar verstand ich die tschechischen Worte nicht, wusste aber, was sie bedeuteten. Ich stand auf und trat mit meiner Kraxe, die mir ein Beamter abnahm, auf den Gang. Auch Katja griff nach ihrem Gepäck und folgte uns. Nacheinander stiegen wir aus dem Zug: voran ein Kontrolleur, dann ich und wieder ein Grenzbeamter mit meinem Rucksack und dann Katja mit ihrem Gepäck. Sie wurde erst sachlich, dann barsch aufgefordert, wieder in den Zug zu steigen. Schließlich nahm einer der Uniformierten kurzerhand ihr Gepäck und stellte es in den Zug. Energisch wurde Katja in den Zug geschoben, dann schnell die Tür geschlossen und der Zug rollte an - ohne mich - in Richtung Budapest. Ich wurde mit einer Geste aufgefordert, in ein Fahrzeug zu steigen.
Die Fahrt war nur kurz und führte zu einem hellen, vielleicht zweistöckigen Flachbau, in dem einige Fenster vergittert waren, wie ich bei der Ankunft mitbekam. Wir betraten das Haus und an einer Art Eingangs-Theke wurde mein Rucksack, den der Grenzer trug, durchsucht. Der Mann hinter der Theke sagte etwas, ich verstand nichts. Wie ein Roboter tat ich, was man verlangte. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Ich war zu entsetzt, eine Frage zu stellen – womöglich noch auf Russisch, da keine andere Sprache als Tschechisch zu hören war[5]. Aus meinem Rucksack gab man mir etwas Kleidung und Seife, meine Zahnbürste und eine Tafel Schokolade. Katjas Plan war fehlgeschlagen. Wir waren ganz und gar nicht zurückgeschickt worden.
Dass Katja ebenfalls den Zug verlassen hatte, hatte ich während des Fußwegs zum Fahrzeug noch mitbekommen, ebenso ihren Widerstand gegen die Anweisungen der Grenzer, die sie zur Weiterfahrt gezwungen hatten. Das fand ich unfassbar mutig von ihr. Dass sich jemand Uniformträgern widersetzte, hatte ich höchstens in alten Filmen gesehen.
Aber diejenige, die nun in einer Zelle saß, war ich.
Der Raum maß vielleicht 3x3m, enthielt eine Pritsche und in einer Ecke einen Wasserhahn über einem Loch, das gleichzeitig als Toilette und Waschgelegenheit dienen sollte. Oben ein vergittertes Fenster. Ich fühlte – nichts. Ich glaube heute, dass mich mein Körper schützte, ich empfand kaum Angst oder Verzweiflung und ich dachte nicht über meine Situation nach. Im Gegenteil: Ich begann mich wie eine Figur aus einem Roman zu fühlen. In meiner Fantasie gefiel ich mir in der Rolle einer romantischen Heldin. Ich sang viel und machte, um mir Bewegung zu verschaffen, Liegestütze. So hatten sich die Gefangenen in meinen Büchern auch immer fit gehalten. Am zweiten Tag fragte ich mit Hilfe meines Schulrussisch´ nach warmem Waschwasser. Das erhielt ich, jedoch wurde gleichzeitig der Sichtschlitz in der Tür geöffnet – anscheinend würden mir die Gefängnisaufseher beim Waschen zuschauen. Es gab einen „Toten Winkel“ am Toilettenloch, wo es schwierig war, mich durch den Sichtschlitz in der Tür zu beobachten. Aber Gefängnisräume sind eindeutig nicht dafür konstruiert, dass der Zellenbewohner sich irgendwo verbergen kann. Trotz der heimlichen Zuschauer wusch ich mich so gut es ging. Am Abend erfuhr ich mit der Essensausgabe, dass mir ab dem dritten Tag ein Spaziergang im Gefängnishof zustand. Zwanzig Minuten durfte ich dort im Kreis gehen. Ein anderer Gefangener drehte ebenfalls seine Runden. Ich hätte gerne sein Gesicht gesehen, aber der Aufseher achtete auf größtmöglichen Abstand voneinander.
Später wurde ich zum Verhör gebracht. Da anscheinend niemand im Gefängnis Deutsch sprach, wurde das Verhör auf Russisch geführt. Das hatte ich natürlich in der Schule und während der absolvierten Semester meines Studiums lange gelernt, aber um meine Geschichte detailliert zu erzählen, war das eine schwierige Voraussetzung. Ich konnte den Verhörenden anscheinend auch nicht von meiner Geschichte überzeugen, denn am Ende sagte er bedauernd: „Christiane, potschemu wuj djelaete etot.“ „Christiane, warum haben Sie das gemacht?“
Das Gefängnis war nur klein. Da dort wahrscheinlich selten Frauen festgehalten wurden und ich – vielleicht durch meinem Gesang - meinen Bewachern sicherlich ungefährlich schien, war der Ton recht freundlich, so dass der Polizist mich während des Verhörs beim Vornamen nannte. Auch das passte in meine Fantasie, dass alles nur ein großes, etwas unheimliches Spiel war. Am fünften Tag wurde ich von Sturovo nach Prag gebracht, und zwar in einem Grenzpolizeijeep. Ich weiß nicht, ob ich einfach naiv war – oder mein Unterbewusstsein mich vor fassungsloser Angst schützte, denn auch diese Situation konnte ich in meinem Spiel in eine fotogene Szene einbauen: Ein lauer Sommertag, zwei junge Polizisten, die mir einen Kaffee für die Fahrt spendierten, ich, mit wehendem Haar im offenen Jeep.
Dieses Fantasiespiel, mit dessen Hilfe ich in Sturovo erfolgreich der Realität entkommen war, endete mit der Ankunft im Prager Gefängnis. Während ich in Sturovo offensichtlich die einzige Gefangene und der Umgang mit mir nicht unfreundlich war, herrschte in Prag ein routiniert rauer Ton und eine herabwürdigende Behandlung. Eine Gefängniswärterin, die mich kaum ansah und kurze unverständliche Befehle bellte, führte eine Leibesvisitation durch. Alle Körperöffnungen wurden untersucht, auch mein Gesäß musste ich in einer demütigenden Pose auseinanderziehen und Einblick in mein Innerstes gewähren. Es schienen viele Ostdeutsche im Gefängnis zu sein, denn in meiner Zelle befand sich bereits eine andere deutsche Frau und an der Wand stand auf Deutsch „Wir wollten nur in die Freiheit“. Zwar freute ich mich, jemanden in der gleichen Situation zu treffen, aber ich hatte Angst, der anderen Frau unabsichtlich etwas Belastendes über meinen „Fall“ preiszugeben und ihr ging es anscheinend genauso. Deswegen redeten wir nicht viel. Mein bisheriger Schutzmechanismus verabschiedete sich: Die Fantasie, mich als Heldin aus vergangener Zeit zu sehen, funktionierte nicht mehr: Der raue Ton, die entwürdigende Leibesvisitation, die Routine im Gefängnis, aber vor allem die Zell-Genossin sorgten dafür, dass ich die Scheuklappen ablegte. Besonders schockierend war die Information meiner Mitgefangenen, dass wöchentlich mehrere Flüge mit bei Fluchtversuchen aufgegriffenen DDR-Bürgern nach Berlin gingen. Plötzlich wurde mir die Tragweite meines Tuns klar, denn das ganze Gefängnis war von DDR-Flüchtlingen voll. Mein Verhalten würde als Fluchtversuch gewertet werden! Langsam verstand ich die Naivität meines Handelns.
Sollte ich meine Stellung als Straftäterin noch nicht verinnerlicht haben, so sorgte spätestens die Art der Essensauslieferung dafür: Das Essen wurde durch eine Öffnung in der Tür geschoben, und zwar schnell und rücksichtslos. Man musste zugreifen und dann seine Finger retten, damit nicht die Klappe, die die Wärterin sofort wieder zuknallte, die Finger erwischte.
Am nächsten Tag kam ich zum Verhör - endlich zu einem deutsch sprechenden, (uniformierten) Mann. Nun, da ich wusste, was man mir vorwerfen würde, erschien mir meine Geschichte und mein Verhalten unglaublich dumm. Ich war zu einer der am besten gesichertsten Grenzen Europas gefahren, die der Sozialismus errichtet hatte und hatte versucht hindurchzukommen. Mein Ziel war nicht Republikflucht, sondern eine Urlaubsreise! - Das würde mir niemand glauben. Trotzdem versuchte ich, meine Geschichte so verständlich wie möglich zu erzählen, denn nun konnte mir nur noch die Wahrheit helfen. Der Verhörende zeigte nicht, ob ihm meine Geschichte glaubhaft erschien. Das Verhör endete mit dem Hinweis, dass auf Republikflucht bis zu sieben Jahre Gefängnis stünden.
Immer beängstigender sickerte die unfassbare Realität in mich ein: Meine momentane Situation war grauenhaft. Aber was wäre, wenn sie nicht enden würde? Wenn ich nicht glaubhaft nachweisen konnte, dass ich vorgehabt hatte, nach dem Urlaub zurückzukommen, drohten mir genau diese sieben Jahre Haft! Ganz kurz stellte ich mir diese sieben Jahre vor. Bei meiner Entlassung wäre ich 30 Jahre alt und meine Jugend wäre vorbei.
Ich war auch darüber informiert worden, dass ich mit dem nächsten Flugzeug in die DDR zurückgeflogen würde. Das passierte überraschend schon am nächsten Tag. Mit neun Mithäftlingen, alles Männern, die Handschellen tragen mussten, flogen wir nach Berlin. Neben jedem Häftling saß ein Polizist, neben mir eine Polizistin. Mir als einziger Frau hatte man glücklicherweise die Handschellen erspart. Vor dem Weg zum Flugzeug wurden wir belehrt, dass bei einem Fluchtversuch von der Schusswaffe Gebrauch gemacht würde. Mit jedem neuen Schrecken fragte ich mich erneut, wie ich hier hineingeraten war. Ich hatte zu keinem Zeitpunkt die Absicht gehabt zu flüchten. Jetzt saß ich in einem Flugzeug mit neun Männern, die wahrscheinlich bei einem Fluchtversuch aufgegriffen worden waren. Mein Leben wurde mit der Waffe bedroht, sollte ich eine falsche, vielleicht eine missverständliche Bewegung machen. Der Flug verlief in bedrückter Stille.
Es war der erste Flug meines Lebens.
In Berlin wartete bei der Landung ein geschlossener Lastwagen auf uns. Dieser war in winzige Kabinen unterteilt mit jeweils einem Brett als Bank. Jeder kam in so eine Kabine, schätzungsweise 70x70x150cm groß. Es gab keine Fenster. Gespräche untereinander wurden uns verboten. Ich spürte nur, wie sich die Knie des Mannes in der Kabine hinter mir in die Zellwand drückten und sie wölbten, weil es so eng war. Die Fahrt dauerte lange. Immer mal hielten wir an und ein Häftling verließ anscheinend den Transport. Irgendwann war auch ich an der Reihe aus dem Wagen zu steigen. Mir wurde erklärt, ich befände mich in Dresden im Gebäude der Staatssicherheit. Ich durfte duschen. Und dort in diesem kahlen Gebäude, nach einer Woche Haft nun zurück in meiner Heimatstadt Dresden, flackerte meine Angst plötzlich ins Unermessliche. So fürchtete ich einen Augenblick lang, es könnte nicht Wasser, sondern Gas aus dem Duschhahn kommen. Nach der Dusche erhielt ich Anstaltskleidung: eine weinrote Trainingshose und ein Oberteil. Riesenunterhosen. Da ich gerade meine Tage bekommen hatte, wurden mir auch Damenbinden ausgehändigt. Die Schnürsenkel meiner Turnschuhe waren entfernt worden, es gab keinen meiner persönlichen Gegenstände für mich. Ich versuchte Mut zu fassen, vergeblich.
In der Zelle fand ich eine gedruckte Haftordnung vor. Ich weiß nicht mehr den vollständigen Inhalt, nur einige Bruchstü name="_ftnref6" title="">[6] Irgendwie hatten Katja und ich es aber versäumt, die Karten zu frankieren und abzuschicken. Unsere gesamte Urlaubspost befand sich in Katjas Rucksack. Als ich beim Verhör auf meine rettende Urlaubspost verwies, hatte ich keine Ahnung, dass die Karten noch gar nicht unterwegs waren. Erst Jahre später stellte sich bei einem „Weißt-du-noch-Gespräch“ mit meiner Cousine heraus, dass sie, als sie einsam und verwirrt in Budapest angekommen war, die Karten etwas überrascht in ihrem Rucksack gefunden hatte. Im Gedenken an das gemeinsame Erlebnis hatte sie unsere Post in Budapest frankiert und abgeschickt. So hat also Katja mit dem Einstecken der Urlaubs- und Einladungskarten am Ende einen Beitrag zu meinem „Alibi“ und damit – ich nehme es an dieser Stelle vorweg - für meine Rettung aus der Situation gesorgt.
Schließlich wurde ich am gleichen Tag vorläufig entlassen und nach Hause gebracht. Ich wurde belehrt, dass ich die Stadt nicht verlassen dürfe und wieder vorgeladen würde. Auf meine Frage, wann das sei, wurde gesagt: „Wir finden Sie dann schon.“
Wie fest und unschuldig Katja an die Harmlosigkeit unseres Vorgehens geglaubt hatte, zeigte sich daran, dass sie, nachdem sie in Budapest angekommen war, mich bei meinen Eltern telefonisch zu erreichen versuchte. Sie ging davon aus, dass ich nach Hause zurückgeschickt worden sei. Hier das Telefonat, wie es mir später geschildert wurde: Das Telefon klingelt bei mir zu Hause in der Frankenstraße. Mein Vater meldet sich. Meine Cousine: „Hier ist Katja, ich möchte mal Janni sprechen.“ (Janni war mein Familien-Rufname.) Mein Vater antwortete verwundert: „Die ist nicht hier. Die ist doch mit dir zusammen?“. Schweigen entstand. Dann legte meine Cousine einfach den Hörer des Telefons auf und ließ meine Eltern in großer Sorge zurück. Die nächste Information, die meine Eltern über den Verbleib ihrer Tochter bekamen, erreichte sie in der Arbeitsstelle meines Vaters. Die Staatssicherheit hatte meinen Vater im Dienst angerufen: „Ihre Tochter ist bei einer Straftat festgenommen worden. Sie ist gesund und befindet sich in unserem Gewahrsam.“ Einerseits bedeutete das ein Ende der Ungewissheit über meinen Aufenthaltsort. Andererseits waren diese Information und der Stasi-Anruf an sich furchteinflößend genug. Nun mussten meine Eltern sich die quälende Frage stellen: „Was für eine Straftat war das? Was war überhaupt geschehen?“
Ich konnte also in mein Zuhause in Dresden zurückkehren. Ich versuchte, mein Leben wieder aufzunehmen. Tagsüber gelang das recht gut. Nachts jedoch kehrte ich immer wieder in meine Gefängniszellen zurück. Ich konnte einige Zeit nicht alleine in meinem gewohnten Zimmer schlafen, was mich durch seine geringe Größe und das Alleinsein zu sehr an meine Erlebnisse erinnerte. Ich schlief mit meinen 23 Jahren tatsächlich einige Nächte bei meinen Eltern auf einer Liege.
Ich wurde telefonisch dann zu einem erneuten Verhör bestellt. Meine gesamte Familie befürchtete, dass ich mit meiner Tat erpresst und dazu gezwungen werden sollte, Informelle Mitarbeiterin zu werden. Dies war nämlich eine gängige Praxis der Stasi zur Gewinnung von IMs: Menschen mit kleineren oder größeren Verstößen gegen die DDR-Gesetze wurden die Konsequenzen[7] erlassen, wenn sie sich bereit erklärten, für die Staatssicherheit zu spionieren. Aber eine solche Erpressung wurde mir zum Glück erspart. Vielleicht war meine unglaubliche Naivität ein guter Schutz davor gewesen. Menschen, die sich so, wie ich es getan hatte, verhielten, konnte die Stasi nicht verwenden.
Nach einigen Wochen erhielt ich eine Vorladung vor Gericht, um das Urteil in dieser Sache zu hören. Mir wurde von einer Richterin vorgelesen, dass mir keine Straftat nachgewiesen werden konnte. Ich hatte nicht versucht, aus der DDR abzuhauen oder zu flüchten. Ich hatte meinen Personalausweis ehrlich gezeigt. Und ich erfuhr, dass ich nun Klage gegen das Vorgehen des Staates, mich einfach festzuhalten, erheben könnte. Alle Ostverwandten sagten: „Um Gottes willen, mach das nicht! Sei froh, so glimpflich davonzukommen.“ Alle Westverwandten sagten: „Klar. Das musst du machen.“
Nach diesem Erlebnis reifte mein Entschluss, das Land verlassen zu wollen.
Meine Cousine und ich haben viele Jahre dieses Geschehen nicht mehr erwähnt. Ich vermied, mich mit den Geschehnissen auseinanderzusetzen, die zu meiner Festnahme geführt hatten, um keinen Groll auf sie fühlen zu müssen. Erst jetzt ist mir klar geworden, dass die Bedürfnisse meiner Cousine in meiner persönlichen Werteskala schwerer wogen als meine eigenen berechtigten Bedenken. Das lag auch daran, dass ich alle Wessis bewunderte und so sein wollte wie sie.[8] Zusätzlich hatte ich eine starke Sehnsucht in mir, dass es auch in meinem Land möglich sein müsste, Grenzen zu überwinden.
11] Kraxe: ein großer Rucksack mit Tragegestell, den man für Tramp-und Zelturlaube nutzte
[2] Für eine Reise ins sozialistische Ausland war ein Visum erforderlich. Einzige Ausnahme war die Tschechoslowakai, die ohne Visum bereist werden durfte
[3] Deutsche Reichsbahn: so hieß unser Bahnreiseunternehmen in der DDR ( ein Name aus der Zeit der Weimarer Republik)
[4] Der Mindestumtausch war in der DDR und CSSR für Bundesbürger Pflicht. Er betrug täglich 25DM
[5] Russisch und Tschechisch sind verwandte Sprachen. Alle Länder des sozialistischen Blocks unterrichteten in der Schule Russisch als Pflichtfach. So wäre eine Verständigung möglich gewesen.
[6] Bei einem Treffen wenige Jahre nach der Wende mit besagter linientreuer Freundin kündigte sie mir an, dass ich in meiner Stasi-Akte etwas von ihr finden würde. Ich bekam erst Jahre später Akteneinsicht. Zwar fand ich die Verhörprotokolle vollständig in meiner Stasi-Akte, von ihr jedoch fand ich nichts. Trotzdem glaube ich bis heute daran, dass diese Freundin für mich ausgesagt hat, und zwar etwa so, dass ich zwar kritisch gegenüber unserem Staat eingestellt sei, aber das Land niemals verlassen würde. Vielleicht war es jedoch auch genau andersherum: Vielleicht wurde sie von ihrem Vater über mich und meine Familie ausgehorcht. Fakt ist, dass diese Einladungskarten als Alibi funktionierten. Die Staatssicherheit Dresden scheint bei der Überprüfung meine Aussage meine Postkarte gleich einbehalten zu haben. Denn meine Dresdner Freundin hat diese Karte nie bekommen.
[7] Zum Beispiel den Rausschmiss an der der Uni
[8] Darauf gehe ich in einer anderen Geschichte. „Grauer Fisch im Goldfischbassin“ ausführlicher ein.
[1] Kraxe: ein großer Rucksack mit Tragegestell, den man für Tramp-und Zelturlaube nutzte
[2] Für eine Reise ins sozialistische Ausland war ein Visum erforderlich. Einzige Ausnahme war die Tschechoslowakai, die ohne Visum bereist werden durfte
[3] Deutsche Reichsbahn: so hieß unser Bahnreiseunternehmen in der DDR ( ein Name aus der Zeit der Weimarer Republik)
[4] Der Mindestumtausch war in der DDR und CSSR für Bundesbürger Pflicht. Er betrug täglich 25DM
[5] Russisch und Tschechisch sind verwandte Sprachen. Alle Länder des sozialistischen Blocks unterrichteten in der Schule Russisch als Pflichtfach. So wäre eine Verständigung möglich gewesen.
[6] Zum Beispiel den Rausschmiss an der der Uni
[7] Darauf gehe ich im Kapitel 8 (Grauer Fisch im Goldfischbassin) ausführlicher ein.